Liebe Jessica,
vielen Dank für deinen Brief und die offenen Worte.
Du argumentierst, dass es sich möglicherweise eher um einen Wertekonflikt handelt als um einen reinen Generationenkonflikt. Du betonst, dass nicht alle Menschen einer Generation gleich denken oder handeln, sondern dass individuelle Wertesysteme eine Rolle spielen.
Das ist natürlich ein wichtiger Aspekt, da Menschen unterschiedliche Erfahrungen und Prägungen haben, die ihre Werte und Ansichten beeinflussen.
So hat mein Vater als Sohn überzeugter Nazis natürlich eine ganz andere Prägung und Wertesystem gehabt als z.B. meine israelischen Gasteltern, welche als Waisenkinder in Polen bzw. Russland versteckt wurden und dann unter extremen Bedingungen nach Israel geflohen sind.
Und so vereinen sich z.B. in mir "zwei Wertesysteme".
Einmal die Prägung meiner Familie, dass "das Baby als ein Quälgeist anzusehen ist, dessen Wille es zu brechen gilt, um eine Generation aus Mitläufern und Soldaten heranzuziehen." (Johanna Haarer, Die Deutsche Mutter und ihr erstes Kind, 1934)
Und dann die Erfahrung bei meinen Gasteltern in Israel, dass das Leben im Hier und Jetzt stattfindet. Mit dem liebevollen Umgang und der fortwährenden Aufforderung meine Wünsche zu äußern, konnte ich gerade als 12-Jähriger überhaupt nicht umgehen.
Und dennoch hat jede Zeit ihre Themen.
Wenn auch die Traumata unserer Vorfahren bis heute nachhallen, so haben wir doch jetzt ganz andere Herausforderungen.
So wurden z.B. gerade zur Zeit unserer Großeltern die Rollen der Geschlechter klar getrennt, um eben gute Soldaten oder Hausfrauen und Mütter zu werden.
Und heute findet genau das Gegenteil statt!
Nun ist es mir bereits zweimal auf offener Bühne passiert, dass ich als privilegierter weißer Mann oder wie letzte Woche als privilegierter Mensch mit männlichen Geschlechtsorganen bezeichnet wurde.
Beim ersten Mal habe ich noch versucht zu verstehen, was der Beweggrund ist. In der Rückbetrachtung stelle ich mir heute noch die Frage.
Haben wir nicht andere Probleme?
Und ich will gerade nicht auf die existenziellen Themen eingehen.
Da verlangen gerade Männer Einlass in Frauensaunen – und bekommen ihn dann auch noch.
Und gleichzeitig findet weiterhin Diskriminierung und Unterdrückung im Alltag statt.
Frauen erhalten nach der Elternzeit nur noch minderwertiger Arbeitsplätze oder werden gar ganz rausgedrängt. Die Vorgesetzten müssen noch nicht mal Männer sein.
Es findet eine fortwährende Individualisierung statt. Jede Kleinstgruppe pocht auf Recht und Beachtung.
Damit sind wir aus meiner Sicht als Gesellschaft nicht überlebensfähig, da der Mensch vom Ursprung ein soziales Wesen ist. Nur ein soziales Gefüge mit Moral, Idealen und Normen wird es schaffen sich fortzupflanzen und vor allem weiterzuentwickeln. Gerade die Weiterentwicklung ist in den aktuellen schnelllebigen Zeiten so wichtig.
Aber ja - du plädierst dafür, dass wir uns mehr mit den Werten beschäftigen sollten.
Ich sehe dies genauso, stelle mir dennoch die Frage, ob genau diese Wertediskussion in die falsche Richtung geht.
DENN wir sind alle unterschiedlich und sollten in einem (!) Wertesystem zusammenleben.
Was für mich heißt, ich bin ein Mann. Meine Sexualität geht erst mal keinen irgendetwas an. Wir leben dankenswerterweise in einer Demokratie, welche ich voll unterstütze.
Mir wäre es wichtig, dass wir unabhängig von Geschlecht und Alter für gleiche Arbeit gleich entlohnt werden. Nun ist aber die Frage, ob jeder die gleiche Arbeit ausüben kann und wird. Nein! Selbst wenn ich auf einer gleichen Position wie mein Kollege saß, habe ich andere Fähigkeiten in das Business eingebracht und habe einen anderen Wertbeitrag zum Unternehmenserfolg erbracht.
Aber wir sollten auch schauen, was ist denn der „Wertbeitrag“. Sollte eine Person, welche mit Aktien Millionen € „erwirtschaftet“, mehr verdienen als eine Kindergärtnerin, welche die Zukunft unserer Gesellschaft gestaltet?
Hier fängt für mich die wirkliche Wertediskussion an!
Welche Haltung habe ich zur Menschheit?
Was ist mir wichtig?
Da fällt mir die Geschichte um Ubuntu (Menschlichkeit, Nächstenliebe, Gemeinsinn) ein:
Angeblich hat ein Wissenschaftler Kindern eines afrikanischen Stammes einen Korb voll
er Obst angeboten. Er stellte diesen von ihnen entfernt auf und meinte: wer zuerst dort sei, gewänne den gesamten Korb. Nach dem Startsignal nahmen sich die Kinder gegenseitig an den Händen und liefen so gemeinsam zum Baum. Dort angekommen, setzten sie sich gemeinsam auf den Boden und genossen den Korb voller Leckereien.
Als der Wissennschaftler sie fragte, weshalb sie so gelaufen seien, wo doch jeder die Chance hatte, alle Früchte für sich selbst zu gewinnen, antworteten sie: „Ubuntu“:
„ICH bin weil WIR sind“ und erklärten dazu: „Wie könnte einer von uns froh sein, wenn all die anderen traurig sind?“
Ehrlich gesagt möchte ich nicht in eine Frauensauna gehen und möchte gerne einfach als Mann angesprochen werden.
Doch ich möchte auch in Gemeinschaft und Frieden die Früchte unseres Handelns genießen.
Liebe Jessica
ich wünsche dir und deiner Familie ein wunderbares Wochenende
- in Liebe und Frieden und in allen möglichen Facetten, die das Leben bieten kann -
Lass deine Emotionen fliegen 🥏
Andreas
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Andreas Jelden, geboren 1966, unterstützt insbesondere Unternehmer und Führungskräfte, ihre berufliche Veränderungen mit Leichtigkeit zu meistern.
Seit 40 Jahren arbeitet er mit und für Menschen, hat kleine und große Teams geführt. In Krisenregionen wie auch sonst hat Andreas umfangreiche Krisenmanagementerfahrungen gesammelt.
Persönliche Herausforderungen haben ihn sein ganzes Leben begleitet. Deshalb ist er immer wieder andere Wege gegangen und hat neue Lösungen erarbeitet.
Andreas arbeitet systemisch, methodenübergreifend sowie integrativ emotionsorientiert auf Basis der aktuellsten neurowissenschaftlichen Grundlagen.
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